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Flüchtet der Autor eines Romans über das alte Rom weiter als der Autor eines Romans über die Französische Revolution?

Über den Unsinn des Begriffs "Fluchtliteratur"


Einigen Genres, vor allem dem fantastischen, wird gern unterstellt, sie seien „Fluchtliteratur“. Wenn es danach ginge, schrieb Goethe Fluchtliteratur, Kafka auch. Magie, Geisterbeschwörung, Hexenzauber, Schwarze Messen – Horror pur. Unerklärliche Kräfte und namenlose Institutionen, die das Leben von Menschen bestimmen – typisch Mystery. Von denen, die solche Etiketten verteilen, scheint sich niemand die naheliegende Frage zu stellen, warum die emotionale oder philosophische Tiefe eines Romans davon abhängen soll, wann und wo eine Geschichte spielt.

Ein fantasievoller Roman erweitert unseren Horizont und stellt somit eine notwendige Korrektur des eindimensionalen Zeitgeistes dar. Der Blick aus der Ferne schärft die Wahrnehmung. Kontrast lässt die Wunden einer Gesellschaft umso stärker hervortreten und ist in der Lage, uns aufzeigen, dass es nicht nur eine Wirklichkeit gibt, wie uns Vertreter dogmatischer Parolen gern glauben machen wollen. Den klarsten Spiegel haben uns zu allen Zeiten Werke des fantastischen Genres vorgehalten, wie auch in der Malerei das treffendste Abbild der Wirklichkeit nicht vom Fotorealismus, sondern eher vom Surrealismus geleistet wird, weil der scheinbar so akkurate Fotorealismus mit seiner peniblen Rekonstruktion belangloser Details allzu oft den Blick auf das Wesentliche verstellt. Es ist das Verdienst des fantastischen Genres, das, was wir unhinterfragt als Realität annehmen, zu verrätseln und dadurch auf seine Vielschichtigkeit hinzuweisen. Uns zum Innehalten und Nachdenken zu bringen und die eingefahrenen Gleise unseres Denkens in Frage stellen. Tom Shippey, Mediävist und einer der führenden Tolkienforscher, sagt auf der Special Extended DVD von "Herr der Ringe - Die Gefährten" zum Thema "Eskapismus", dass sich die fantastische Literatur Problemen stellt, denen sich kaum jemand stellen will.

Abstraktes Bild (Acryl)

Literatur löst keine gesellschaftlichen Probleme, sie beschreibt. Um unsere Welt zu beschreiben, reicht es nicht aus, sich auf die Vokabeln des Alltags zu beschränken; das hieße, die kraftvollen Bilder und Symbole der Mythen zu ignorieren, die nicht umsonst zu allen Zeiten eine starke Anziehungskraft ausgeübt haben, weil sie unsere seelische Reifung unterstützen. Das Märchen – das übrigens alles andere als eine primitive Urform ist, sondern im Gegenteil, wie Max Lüthi so treffend bemerkt, in seiner vollkommenen Ausformung „eine dichterische Endform“ darstellt* – und seine legitime Tochter, die Fantasy, beschäftigen sich mit den großen Lebensthemen. Horror legt unsere dunklen Seiten offen. Mystery stellt unsere Vorstellungen von Realität in Frage. Science Fiction zeigt gesellschaftliche Alternativen auf. Und all diese Genres tun das auf einzigartige Art und Weise, indem sie nämlich mit vielschichtigen Bildern direkt zur Seele sprechen.

Politisches Bewusstsein und die Beschäftigung mit dem eigenen Seelenleben werden gern als unversöhnliche Gegensatzpaare betrachtet. Als würden die politischen Zustände nicht unseren Charakter formen. Als hätte das, woran wir glauben, nicht unmittelbare gesellschaftliche Folgen. Allzu oft drücken sich diejenigen, die alles auf die abstrakte politische Ebene heben, auf diese Weise nur davor, sich ihrer eigenen dunklen Seite zu stellen und die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.

Was Vertreter des etablierten Literaturbetriebes so leichtfertig den Vorwurf des Eskapismus erheben lässt, entspringt wohl eher der Angst vor dem Unbekannten. Das Vertraute gibt uns das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Das Fantastische beunruhigt. Die Qualität von Literatur wird jedoch nicht durch ihre Requisiten bestimmt, sondern durch die Menschen, um die es geht, und die Reifeprozesse, die sie durchlaufen.

Gunnar Kunz

 

* Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen (S. 89)